Sabine Beck
Rot stand ihr schon immer

Das Beitragsbild mit dem Titel „Silvester 24_Wormhole“ stammt von Christian Knieps, der wie Sabine Beck in Ausgabe Null vertreten ist.

Stiefelchen aus schwarzem Samt, die Bänder fest geschnürt. Schwarz das Beinkleid, Qualität in Seide. Mutter schenkt sie ihr an allen Feiertagen, drei Stück in einer Packung, mittlerweile Massenware in ihrem Kleiderschrank, der schon etliche Anstriche gesehen hat, diesmal marmoriertes Grün.

Rock in Senf, Mantel in Karamell, mit Fuchs am Kragen. Ihr Duft, der Geruch von Mottenkugeln, Lavendel und Zedernholz. Sie stochert in die mit bunten Perlen belegte Schatulle, schiebt und fühlt und sucht. Leises Klimpern erfüllt den Raum. Rot! Rot muss es sein, rot stand ihr schon immer. Kühl und leicht liegt der Stift in ihrer Hand. Sie dreht das güldene Metall. Es gab Zeiten, in denen eine rote Spitze zum Vorschein kam, so dünn und gebogen, dass sie abbrach. Nun schiebt sich ihr eine dicke Kugel entgegen, deren Form nicht im Geringsten der ihrer schmalen Lippen entspricht. Es liegt wohl an ihrer Art sich den Mund anzumalen, die Farbe satt aufzutragen, den Stift zwischen den Lippen hin und her zu rollen, selbstvergessen. Sie beißt sich in die Unterlippe, schmeckt den süßlichen Balm. Kirsch und Erdbeer und Fasching. Ihr erster Lippenstift wurde ihr zum Karneval von der Mutter aufgetragen. Ein Czárdásmädchen braucht Rot! Nun dreh dich doch mal, dreh dich, Kleine, tanz, tanz!

Auch zur Firmung frischte ihr die Mutter die Lippen auf, blass war sie damals, totenblass. Am Altar spürte sie etwas Warmes an ihren Beinen hinunterlaufen. Mit der Kommunion zwischen den rotgefärbten Lippen beugte sie den Kopf, und endlich nahmen auch ihre Wangen die Farbe von reifenden Kirschen an. Kein gutes Zeichen, murmelte später die Großmutter. Das müssen wir feiern, rief Mutter, und drückte ihr bei der anschließenden Familienfeier ein Sektglas in die Hand. Klebrig und süß wie das Blut an den Innenseiten ihrer Schenkel.

Es fließt nun im dreizehnten Jahr. Auch heuer am Heiligen Abend. Unrein wird sie also in die Kirche gehen. Und blass. Ein wenig Rot noch auf die Wangenknochen, auf Stirn und Lider und Kinn. Das verleiht Frische, meine Liebe. Streng streicht sie sich mit Gel die Haare in den Nacken, zwickt sich einen Rubinstein in jedes Ohr, greift zum Kajal, zieht mit Graphit die Brauen nach. Der Kirchgang! Mutters Rufe dringen an ihr Ohr. Sie greift zum Mäntelchen, drückt das Kreuz durch, ihr Kreuz, und hakt die schimpfende Alte unter. So gehen wir nicht in die Kirche, so nicht! Der Vater bleibt einige Schritte zurück, brabbelt was von Scham und Demut. Schnee fällt auf ihren Fuchs, die dicken Flocken sinken ins kupferrote Fell, verleihen ihr Glanz, einem Heiligenschein gleich. Sie lächelt. Den Auftritt lässt sie sich nicht vermiesen, sollen sie doch reden, sich den Mund ausfransen, die Fäuste tief in die Taschen vergraben, sich die Augen an ihren immer breiter werdenden Hüften ausbrennen, den Geifer heimlich ablecken. Das Rot ihrer Lippen schreit. Seht her, ich bin das Fleisch, ich bin die Auferstehung! Ein kläglicher Gesang läutet die Mette ein: Wie soll ich dich empfangen. Sie wird von ihrer Mutter in die letzte Kirchenbank gedrängt. Das ist ihr Platz. Der Familienplatz. Der Platz der Schande. Und alles nur wegen der dicklichen Schenkel der Schwester. Die hat damit den Nachbarn verführt, damals, bei der Kirmes. Tanzte wie der Derwisch. Da muss doch der Berserker im Manne erwachen! Er hat sie gepackt, der Nachbar. Zugepackt. Etwas zu fest. Und genommen hat er sie. Etwas zu hart. Und dann ist sie aufgestanden, die Schwester, hat sich geordnet, das Haar, das Blüschen, ganz ruhig, den Rock glattgestrichen überm Beinkleid aus Seide, dass zerrissen war, ganz zerrissen. Heim wollte sie, dunkel war es und der Weg weit. Langsam ging sie, Schritt für Schritt. Schneller. Lief. Rannte. Stolperte. Und fiel. Fiel sich tot.

Wie sie da lag!
Einer Puppe gleich. Mit dicklichen Schenkeln.
Die Gendarmerie weiß nicht genau, ob sie sich gewehrt hat.
Wie sie aussah!
Mit rot verschmierten Lippen.
Nicht abwaschen kann man das, nicht mehr.
Es ist eine Schande, eine Schande ist das.
Glücklich sah sie aus, die Gute, die Schwester!
Auf ins Paradeis, saftig grün das Gras, der Himmel so blau, die Sonne strahlend gelb!
Ein Polaroid der Bergwelt.

Und das Rot ihrer Lippen färbte auch nach Jahren noch ab. Befleckte die Familie. Befleckte die Nachgeborene, die Jüngste, die mit den immer breiter werdenden Hüften, das Czárdásmädchen, die mit dem Rot auf den Lippen, dem Rubin am Ohr, dem Fuchs um den Hals, Mantel in Karamell, Rock in Senf, Stiefelchen aus schwarzem Samt, schwarz das Beinkleid.

Da ist ihre Kirchenbank. Da ist ihr Platz. Sie lässt sich aber nicht drängen. Sie nicht. Sie wehrt den klammernden Arm der Mutter ab, greift ihre Hand, zieht die widerwillige Alte weiter, immer weiter. Reihe. Um. Reihe. Hoch das Haupt, gerade das Kreuz. Nach vorn! Quartaner in weißen Kutten, Kerzen in der Hand ziehen singend durch das Schiff: Quem pastoris laudavere.

Mich!
Mich sollt ihr loben!
Singt. Singt!


Sabine Becks Text wurde aufgrund eines Druckfehlers unvollständig in unserer Ausgabe Null des Karacho:Magazins abgedruckt. Hierbei handelt es sich um die vollständige, von der Autorin intendierte Fassung.